Details: | Welt v. 08.01.2004
In einem anderen Land
Good Bye, Saddam! Alles ist anders im Nachkriegsirak. Wie würde sich wohl ein Iraker heute fühlen, der nach einem Jahr aus dem Tiefschlaf erwacht?
von Boris Kalnoky
Markt in Mossul: Eine Ente kostet vier Dollar
Foto: dpa
Nichts ist mächtiger als der Alltag. Das gilt im Irak wie anderswo auch. Wenig ist dringender als der Wunsch, eigenes Unglück zu beklagen. Das gilt besonders im Irak. Aber es gibt auch Licht in dem Land, das erst am Anfang einer neuen Ära steht.
Die Iraker sehen, wenn sie über ihre Lage nachdenken, zuerst den Mangel an Strom, die langen Warteschlangen für Benzin, die Arbeitslosigkeit, die steigenden Preise, den ungehinderten Wildwuchs der Kriminalität.
Um es einmal anders zu sehen, müsste man sich einen Iraker vorstellen, der ein Jahr lang im Tiefschlaf lag, ein wenig wie die kränkelnde Mutter im Erfolgsfilm "Good Bye, Lenin!". Des erwachenden Irakers letzter Stand ist Saddam Husseins Irak im Januar 2003. Nun schlägt er die Augen auf. Im Fernsehen läuft CNN, BBC oder - wahrscheinlicher - der unter Saddam ebenso verbotene arabische Fernsehsender Al Dschasira. Sein Bruder spricht gerade über Mobiltelefon mit seinem Cousin in Deutschland. Mobiltelefone waren unter Saddam verboten und Familien mit Verwandten im Ausland grundsätzlich verdächtig. Auf dem Tisch liegt Bargeld herum, gestern war Zahltag - es sind amerikanische Dollar. Der Bruder verdient 100 Dollar im Monat, das Vierfache eines Durchschnittsgehalts unter Saddam. Er arbeitet als Korrektor bei einer der rund 150 neuen, unabhängigen Zeitungen des Irak, in denen alles geschrieben und gesagt werden kann, außer Aufrufe zur Gewalt.
Erstaunlicher als alles andere und zugleich die Erklärung für alles ist das Fehlen von Saddams Bild an der Wand über dem Wohnzimmerschrank. Saddam selbst, so erfährt der Iraker, ist Vergangenheit. Wenn er Kurde oder Schiit ist, dann ist diese Nachricht mehr wert als alle anderen zusammen. Ist er ein Sunnit, so freut er sich dennoch - bis er hört, dass Amerikaner das Land regieren und dass, wenn sie gehen, wahrscheinlich die Schiiten die Macht haben werden und die Kurden weit gehende Autonomie.
Fortan keine Besuche der Staatssicherheit mehr, um zu drängen, dass der Sohn den Fedajin Saddam beitreten soll, oder um mit Haft zu drohen, wenn man nicht verrät, was der Nachbar so erzählt. Und überhaupt: Zwei weitere Cousins sind frei, sie waren von Saddam eingesperrt worden, warum, wissen weder sie noch die Familie.
Im Hof des Hauses steht ein glänzender Opel Astra Kombi. Gebraucht und aus Deutschland. 2500 Dollar hat er gekostet, viel für die Familie, jeder hat beigetragen, um die Summe zusammenzubekommen. Aber das Auto ist vermutlich billiger als irgendwo anders auf dem Planeten. Die Amerikaner haben acht Monate lang alle Steuern und Einfuhrzölle gestrichen, mehr als eine halbe Million Fahrzeuge sind seit Kriegsende ins Land gerollt. Unter Saddam war das eine streng reglementierte Angelegenheit, und um zu einem Fahrzeug zu kommen, brauchte man außer viel Geld auch gute Beziehungen. Der Bruder nutzt das Auto, um außerhalb der Arbeitszeiten als Taxifahrer Geld zu verdienen. Eine mühevolle Angelegenheit, da der Verkehr in Bagdad einer Vision der Hölle gleichkommt. Zu viele Autos und allenthalben Straßensperren und Barrikaden der Amerikaner. Aber immerhin, so kommen noch einmal 150 Dollar im Monat zusammen. Macht zusammen 250, und zwei weitere Mitglieder der zehnköpfigen Familie arbeiten. Einer als Polizist (120 Dollar) und seine Frau als Sekretärin bei der Zeitung (100 Dollar).
Zusammen hat die Familie mehr als genug zum Leben, zumal die Amerikaner Saddams altes System der staatlichen Nahrungsmittelverteilung beibehalten haben. Es gibt also genug zu essen, auch für jene, die kein Geld verdienen. Für Mehl, Reis, Öl, Salz, Zucker, Tee und dergleichen Grundnahrungsmittel ist immer gesorgt.
Der erwachende Iraker selbst betrieb vor seinem Tiefschlaf ein Möbelgeschäft. Seine Frau und sein erwachsener Sohn haben es in seiner Abwesenheit verwaltet. Das Geschäft boomt, zumal keine Steuern mehr zu zahlen sind. Vor allem Büromöbel sind derzeit gefragt, allenthalben werden neue Unternehmen gegründet. Eben debattiert die Familie, ob man nicht ein neues Geschäft starten sollte, es gibt für Existenzgründungen bescheidene Kredite bei der Besatzungsbehörde.
Alles in allem bleibt genug Geld übrig, um einen Computer zu kaufen. Für die Kinder. Iraker haben immer Wert auf die Schul- und Ausbildung ihrer Kinder gelegt, und Informatik scheint der Beruf der Zukunft zu sein. "Internet" lautet das neue Zauberwort, wer es nicht hat, der will es, und auch das war natürlich unter Saddam vollkommen undenkbar. In Bagdad sind die Internet-Cafés wie Pilze aus dem Boden geschossen. Selbst in entfernten Kleinstädten findet man welche. Die Iraker lernen schnell, und da die alten Telefone stumm sind (die Telefonzentrale ist immer noch nicht vollkommen repariert), haben viele eine E-Mail-Adresse.
Von allen Träumen, die der erwachende Iraker früher hatte, scheint nur einer unerfüllt - er würde so gern ins Ausland reisen. Bei so viel neuen Freiheiten und sogar genügend Dollar in der Tasche hofft er nun plötzlich, dass auch das möglich sein könnte. Da müssen ihn die Angehörigen leider enttäuschen. Die Besatzungsbehörde gibt keine Pässe aus, stattdessen bekommt man ein Stück Papier, auf Englisch, das kein Grenzer irgendeines Landes dieser Welt ohne weiteres annehmen wird. Der Irak ist in dieser Hinsicht also genau das, was es auch unter Saddam war - ein großes Gefängnis. Aber es ist ein Gefängnis der kaum begrenzten Möglichkeiten für jene, die sie zu nutzen wissen. Es ist ein Gefängnis in denkbar baufälligem Zustand, in dem jeden Augenblick ein Ziegel aus der Decke fallen und einen erschlagen kann - nicht aber der Zellenwart. Der ist verschwunden und kommt nicht wieder.
Artikel erschienen am 8. Jan 2004
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